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#29 Weniger Druck mit „Positive Working“!

veröffentlicht am 02.06.2022; Autorin: Susanne Spellerberg

Farbenkasten

26 Prozent aller Befragten einer Studie der Techniker Krankenkasse gaben Ende letzten Jahres an, häufig gestresst zu sein. Diese Aussage deckt sich auch mit den Berichten vieler TOPAS-NetzwerkerInnen, wonach die Freude an der Arbeit sich nicht mehr einfach einstellen will, schlicht weil zu viele Aufgaben Aufmerksamkeit erfordern. Und das nicht erst seit Corona. Für uns war das Anlass genug, unserem Netzwerk ein Seminar zum Thema „Positive Working“ anzubieten. Unsere Trainerin Carolin Meyer, mit langjähriger Beratungserfahrung zum Thema, kennt das Phänomen, dass sich viele MitarbeiterInnen müde, ausgelaugt oder erschöpft fühlen. In unserem Interview mit Ihr haben wir gefragt, welche Faktoren dazu führen und wie diesen am besten zu begegnen sei.

Das „Digitalisierungsparadoxon“

Liebe Frau Meyer, Sie sind mit dem Digitalisierungsparadoxon in das TOPAS-Seminar Positive Working eingestiegen. Was ist darunter zu verstehen?

Die digitalen Errungenschaften der letzten 20 Jahre hätten uns das Arbeitsleben eigentlich enorm erleichtern müssen. Aber tatsächlich ist genau der gegenteilige Effekt eingetreten:

Viele Menschen erleben den Arbeitsalltag aktuell als extrem anstrengend, verdichtet und wenig beherrschbar. Wir leben im ständigen Multitasking-Modus, springen den ganzen Tag zwischen unterschiedlichen Aufgaben hin und her und neigen dazu, uns gegenseitig permanent mit größeren und kleineren Rückfragen zu unterbrechen. Wir haben uns die indirekte, digitale Kommunikation als bevorzugten Kommunikationsweg angewöhnt und erzeugen dadurch eine enorme Flut an E-Mails, Posts und Nachrichten, die wir kaum mehr abarbeiten können. Dabei bräuchten wir gerade jetzt, in Zeiten, in denen die Aufgaben immer komplexer werden, eine fokussierte und konzentrierte Arbeitsweise und einen direkten, schnellen, face-to-face Austausch. Stattdessen aber praktizieren wir genau das Gegenteil. Daher treten wir bei den großen, komplexen Aufgaben häufig auf der Stelle. Das heißt, unsere bevorzugt digitale Arbeitsweise passt nicht zu den aktuellen Aufgaben und lässt uns weit hinter unseren eigentlichen Möglichkeiten zurückbleiben. Genau diesen Zustand beschreibt das Digitalisierungsparadoxon.

… schnell, schnell, schneller

Frage: Mit Corona haben sich die psychologischen Fallstricke sicherlich noch einmal verschärft. Welche Beobachtungen konnten Sie machen?

Auch schon vor Corona haben wir uns und unsere Mitmenschen mit der enormen Geschwindigkeit, Kurzfristigkeit und Dichte von Informationen überfordert. Aber die Einführung von sogenannten Kollaborationstools im Zuge der Homeoffice-Pflicht hat die Lage nochmal deutlich verschärft. Wir können immer und ständig miteinander in Kontakt treten, was ja eigentlich eine großartige Möglichkeit darstellt. Wir nutzen aber diese Möglichkeiten im Moment noch sehr kopflos. Wir machen, was geht, statt zu überlegen, was für die Zusammenarbeit wirklich unterstützend und hilfreich wäre. Wenn ich jederzeit angesprochen werden kann ohne Rücksicht darauf, an was ich vielleicht gerade arbeite und wofür ich gerade meine ganze geistige Kapazität brauche, dann bleibe ich weit unter meinen geistigen Möglichkeiten zurück. Wir glauben aber, dass wir – weil es technisch geht – jederzeit auf Jede:n Zugriff haben können und dürfen und vergessen dabei, dass wir störungsfreie Zeiten brauchen, um große geistige Würfe zu vollbringen. Wir haben für die Nutzung unserer digitalen Möglichkeiten also aktuell noch kein geeignetes Maß gefunden und bringen uns mit der derzeitigen Art, wie wir miteinander kommunizieren und interagieren um die großen Vorteile, die uns die Technologie eigentlich bieten könnte.

Task-Switching

Frage: Mangelnde Konzentration und weniger Fokus. Welche Rolle spielt Multitasking als Stressfaktor?

Multitasking ist der verzweifelte Versuch, den zahlreichen Anforderungen des Alltags gerecht zu werden. Allerdings ist das wirklich ein Trugschluss. Wir sind neurobiologisch gar nicht zu echtem Multitasking in der Lage. Was wir stattdessen in Wirklichkeit betreiben, ist ein Task-Switching – ein Hin- und Herspringen zwischen unterschiedlichen Aufgaben mit einer sehr kurzen Aufmerksamkeitspanne pro Aufgabe. Das ist eine sehr ineffektive Art des Arbeitens und verbraucht dreimal so viel Zeit, als wenn ich die Dinge einfach am Stück hintereinander bearbeiten würde. Wir haben uns aber so sehr an diese Art des Arbeitens gewöhnt, dass wir häufig gar nicht mehr in der Lage sind, die Konzentration für längere Zeit bei einer Aufgabe zu belassen. Das heißt, selbst wenn wir tatsächlich einmal nicht gestört werden, verlassen wir nach kurzer Zeit ganz von alleine den Konzentrationsmodus und fangen an zu prokrastinieren, uns also mit unserem Smartphone oder den unendlichen Möglichkeiten des Internets abzulenken. Wir müssen leider feststellen, dass in Folge der digitalen Möglichkeiten unsere Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Selbstregulation zunehmend versagen.

Mehr Fokus, nur wie?

Frage: Wir haben jetzt einen Eindruck davon, welche Faktoren uns daran hindern, entspannt und fokussiert zu arbeiten. Mit welchen individuellen Lösungen können wir jetzt für mehr Konzentration und Fokussierung sorgen?

Das ist eine wichtige Frage. Es reicht nämlich leider nicht, einfach nur kognitiv zu verstehen, dass uns weniger Ablenkung und Unterbrechung guttun würde; das allein führt nicht dazu, dass wir unser Verhalten auch tatsächlich ändern. Multitasking ist nämlich inzwischen fest in unseren Habitus übergegangen, ist also ein Verhalten, das sich durch alle Lebensbereiche zieht. Wenn wir die Fähigkeit zu Konzentration und Fokussierung neu erlernen wollen, dann ist das ein länger angelegter Prozess. Wir können aber mit wenigen kleinen Änderungen beginnen, um bereits eine gute Wirkung zu erzielen. Ein erster, Schritt wäre, jegliche digitale Eingangskanäle nach der Bearbeitung zu schließen: Das E-Mail-Programm, das Kollaborationstool, die Messenger-Dienste. Alles, was mich während des Arbeitens zu anderen Themen oder Aufgaben leiten könnte, sollte ich konsequent abstellen. Ein zweiter Schritt wäre, sich die permanente Ablenkung durch das Smartphone dadurch unmöglich zu machen, dass man sich den physischen Zugang zum Smartphone deutlich erschwert. Wie häufig wären Sie versucht, zwischendurch mal schnell auf das Handy zu schauen, wenn Sie dafür erst Ihren Schreibtisch verlassen, die Etage wechseln, ein Zahlenschloss öffnen und das Handy dann noch einzuschalten müssten? Eine dritte Technik, um das konzentrierte Arbeiten neu zu erlernen, ist es, sich für ein überschaubare Zeitfenster von 25 Minuten eine ganz bestimmte Aufgabe vornehmen und in dieser Zeit konsequent sich wirklich nur mit dieser einen Aufgabe zu beschäftigen. Das ist ein sehr gutes Training, um Fokussierung und Konzentration zu üben und führt außerdem dazu, ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Wert von Zeit zu bekommen.

Flow oder unterbrechungsfreies Arbeiten

Frage: Wohin müssen wir zurückkommen und welche Faktoren gehören dazu, dass uns das gelingt? Wir sollten geistige Arbeit als ein schützenswertes Gut verstehen, dass mit Umsicht und Rücksichtnahme zu behandeln ist. Daher sollten wir jetzt unbedingt Arbeitsbedingungen schaffen, in denen ein konzentriertes, vertieftes und ungestörtes Arbeiten trotz digitaler Vernetzung möglich wird. Wir brauchen wieder mehr Flow-Erlebnisse bei der Arbeit. Jede Unterbrechung – egal ob lang oder kurz – zerstört den Flow und macht unsere gerade entstehenden Denkergebnisse zunichte. Flow ist die Voraussetzung dafür, dass Arbeit produktiv und glücklich zugleich macht. Konzentration und Kontemplation – das tiefe geistige Versinken“, bei dem man alles um sich herum vergisst und zu großen geistigen Würfen kommt – sind die Schlüssel zu „Positive Working“.

Kommunikationsetikette dringend gebraucht

Frage: Welche kollektiven Lösungen für mehr Effizienz in der Zusammenarbeit braucht es? Brauchen wir eine neue Kommunikationsetikette?

Ja, unbedingt. Ich bin fest überzeugt, dass wir jetzt dringend neue Vereinbarungen darüber treffen sollten, wie wir „Positive Working“ in Zeiten der Digitalisierung möglich machen können. Dafür braucht es eine neue Kommunikationsetikette. Wir sollten verabreden, wann und zu welchen Themen wir auf welchem Kanal in Kontakt treten wollen. Wir sollten festlegen, wann wir uns gegenseitig ungestörte Denkzeiten zugestehen und wann wir ganz bewusst bereit stehen für den direkten, schnellen Austausch miteinander. Wir sollten die digitalen Tools, die wir einsetzen, mit Bedacht wählen und zu jedem Tool festlegen, wie, wann und zu welchem Zweck wir es einsetzen, so dass es uns in unserer geistigen Arbeit unterstützt und fördert. Das über allem stehende Ziel muss „Positive Working“ sein. Fragen wir also ganz bewusst: Welche Art der Arbeit und Zusammenarbeit macht uns glücklich und wie können uns die digitalen Möglichkeiten dabei hilfreich und wohltuend unterstützen? Über diese Frage sollten wir uns jetzt verständigen und gemeinsam neue Maßstäbe für die Zukunft der Arbeit setzen.

Vielen Dank für Ihre lehrreichen Ausführungen, liebe Frau Meyer.

Die Rückmeldungen unserer Seminar-TeilnehmerInnen belegen übrigens, dass AHA-Effekte dafür sorgen, anhand der gelieferten Erklärungen und Strategien Strukturen des bisherigen Arbeitsalltags anders zu gestalten. Hier zwei exemplarische Rückmeldungen:

Mit einer guten Mischung aus theoretischen Inhalten und einem aktiven Austausch von praktischen Beispielen hat mir das Seminar ‚Positive Working‘ an vielen Stellen die Augen geöffnet. Auch ich führe jeden Tag intensives Multitasking durch und versuche mehrere Aufgaben gleichzeitig zu lösen.

Tatjana Vollmer, Ottobock SE & Co. KgaA

 

Zu viele Aufgaben und zu wenig Zeit um diese zufriedenstellend zu lösen – Wer kennt das nicht? Das Seminar ‚Positive Working‘ hat Hintergründe sehr spannend und anschaulich beleuchtet. Die Erkenntnis der Muster hinter dem Zustand war teils erschreckend, aber die schnell umsetzbaren, praktischen Methoden zur Lösung dieses Zustandes sind für mich ein großer Mehrwert.“

Johanna Meier, Fagus-GreCon Greten GmbH & Co.KG

Carolin Meyer ist freiberufliche Kommunikationstrainerin und Coach und lebt mit ihrer Familie in Lüneburg.

Ansprechpartnerin:

Susanne Spellerberg
Projektleiterin TOPAS
T. 0551/270713-32
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