BLOG: Fachkräfte Südniedersachsen

#28 Anbinden oder festhalten?

veröffentlicht am 25.05.2022; Autor: Benjamin Schulze

Farbenkasten

Um den regionalen Fachkräftemangel zu überwinden, brauchen wir in Südniedersachsen mittel- und langfristig mehr Menschen im arbeitsfähigen Alter. Schließlich muss das regionale Erwerbspersonenpotenzial erweitert werden. Das ist aufwendig und komplex, mehr dazu in unserem Beitrag #20. Doch ein Fokus sollte dauerhaft auf den hiesigen Menschen liegen. Junge Menschen sollten ebenso wenig abwandern wie jene, die bereits über breites Erfahrungswissen verfügen. Grundsätzlich gilt die Faustregel: Es ist einfacher (und günstiger) jene in der Region zu halten als Auswärtige dauerhaft zu integrieren. Aber wie gelingt dieses Halten? Braucht es mehr Angebote oder stärkere Haltekräfte?

Theorien zu sozialen Haltekräften

Kurz gefasst: Wir sind auf der Suche nach dem besten „Kleber“ insbesondere für all jene Menschen im arbeitsfähigen Alter, um diese dauerhaft an unsere Region zu binden. Viele Studien zu diesem Themenkomplex identifizieren vor allem Jugendliche als die „Schlüsselgruppe des demographischen Wandels“ (Tillmann, Haltefaktoren Jugendlicher auf dem Land, 2020). Diese bieten einerseits mit ihrer Arbeitskraft ein ausgesprochen langfristiges Potenzial für die Region. Andererseits lässt sich gerade bei dieser Zielgruppe die gefährliche Abwärtsspirale des demographischen Wandels, so auch in unserer Region, beobachten: Junge Menschen wandern lokal ab, dadurch sinkt die Nachfrage von bestimmten Angeboten insbesondere für diese Zielgruppen (z.B. Jugendräume, Freizeit- oder Mobilitätsangebote), was wiederum zur Folge hat, dass vermeintlich kostspielige Infrakstruktur zurückgebaut wird. Je mehr dieser Rückbau sichtbar wird, desto mehr steigen Unzufriedenheit, Frustration und Perspektivlosigkeit bei den lokal verbliebenen Personen. Daraus resultiert weitere Abwanderung. Eine solche „Abstimmung mit den Füßen“ ist unlängst im Gange.

Mit dem Rückbau bzw. dem Ausbleiben von zusätzlichen Angeboten im öffentlichen Personennahverkehr verschwindet im ländlichen Raum eine wichtige Haltekraft für junge Menschen. Fehlender Breitbandausbau oder zumindest die Verfügbarkeit stabiler Internetkapazitäten tragen dazu bei, dass Großstädte als attraktiver wahrgenommen werden. Jene Aspekte sind gleichsam natürlich auch für ältere Zielgruppen von großer Bedeutung, nicht erst seit dem jüngsten Digitalisierungstrend, der mit der COVID-19-Pandemie einhergeht.

Vereinssterben schmerzt doppelt

Neben harten Faktoren, wie Infrastruktur, Wohnraum- oder Arbeitsplatzangeboten, fungieren vor allem soziale Aspekte als kraftvoller „Kleber“. Viele junge Menschen empfinden eine hohe Bindung an ihre Herkunftsregion. Verantwortlich sind dafür oftmals vielschichtige soziale Netzwerke, wie Familie, Freundschaften oder eine Integration in lokale Ortsgemeinschaften oder Vereine. Doch gerade die letzteren beiden Aspekte verlieren zusehends, schon weit vor der Pandemie, auch in unserer Region ihre Wirkung. Dabei sind die Rückgänge in Ortsgemeinschafts- oder Vereinsleben nicht Ursache sondern Symptom. Zentrale Herausforderung bildet dabei stets die Nachfolgefrage, so ist das Vereinssterben eben Teil der oben beschriebenen Abwärtsspirale, denn ohne Nachwuchs schwindet die Existenzberechtigung von Vereinen rasch. Vielerorts fehlt eine ausreichende Möglichkeit, und das ist das zweite Dilemma, zur ausreichenden bzw. ernstgemeinten Beteiligung und Gestaltungsfreiheit für Jugendliche. Auch wenn es kein Patentrezept gibt, so funktioniert Vereinsleben doch oftmals dort besonders gut wo eine generationsübergreifende Zusammenarbeit gewährleistet ist. Dazu gehört auch die Bereitschaft neue Wege zu gehen – übrigens: Tradition war noch nie etwas statisches, sondern sie ist stets ein flexibles Konstrukt und unterliegt regelmäßigen Anpassungen.

Einem Fußballverein ohne eigene Jugendmannschaft(en) wird es langfristig sehr schwerfallen, neue SpielerInnen für Mannschaften im Erwachsenenbereich zu gewinnen. Die teuren Kaderschmieden der etablierten Bundesliga-Clubs (Leistungszentren und Fußballakademien für NachwuchsspielerInnen) sollen neben wichtiger Einnahmequelle eben auch als nachhaltiger „Kleber“ zwischen SpielerInnen, Verein und Fans wirken.

Selbstständige und selbstbestimmte Freizeitgestaltung sind wichtige Lern-, Erfahrungs- und Experimentierräume, die Engagement fördern und junge Menschen Selbstwirksamkeit ermöglichen.“

Martina Kirchpfenig, Familie, Freunde, Nachbarschaft Chancen und Risiken im ländlichen Raum, 2020

Selbstwirksamkeit kann helfen

Junge Menschen benötigen frühzeitig lokale Aneignungs- oder Experimentierräume, um selbst schwierige oder herausfordernde Situationen meistern zu lernen. Daraus ziehen sie Bestätigung und gelangen zu der Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Politische VertreterInnen und Verwaltungen sind vor diesem Hintergrund gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen dauerhaft zu schaffen. Etablierte Akteure in Dorf-, Gemeinschafts- und Vereinsleben sollten gezielt physische und inmaterielle Räumen anbieten und Angebote zur gemeinsamen Entwicklung selbiger formulieren. Gleichsam braucht es innerhalb der Öffentlichkeit mehr Werbung und Anerkennung für ehrenamtliche Tätigkeiten, denn gerade das klassische Ehrenamt hält ländliche Räume und wichtige Teile des Versorgungssystems lebendig. Für mehr bürgerliches Engagement eignen sich z.B. die Einrichtung von Freiwilligen-Agenturen, Mehrgenerationenhäusern, Seniorenbüros, Bürgerstiftungen, Stadtteilbüros oder Selbsthilfekontaktstellen.

Abwärtspirale durchbrechen…

… so lautet der klare Auftrag. Im Beitrag #20 hieß es zum Schluss beinahe wörtlich: „Unsere Region hat bereits viel zu bieten, doch ist dieses nicht nur für Auswärtige aktuell nur begrenzt sichtbar. Die Vorzüge Südniedersachsens müssen sichtbarer werden!“ An diesem Grundsatz sollten wir dringend festhalten, aber in erster Konsequenz gilt es zunächst alle hiesigen Menschen von den Vorzügen unserer Region zu überzeugen. Und nein, es wird uns sicher nicht gelingen, alle (jungen) Menschen vom „Weggehen“ abzuhalten. Wir sollten sie davon auch nicht massiv abhalten. Doch bevor sie abwandern, sollten wir sie in ein belastbares, soziales Gefüge integriert haben. Gelingt uns dies, werden viele von ihnen nach Ausbildung, Studium oder Auslandserfahrungen auch gerne wieder nach Südniedersachsen zurückkehren.

Ansprechpartner:

Dr. Benjamin W. Schulze
Bereitsleiter Fachkräfte und Willkommenskultur
T. 0551/270713-43
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