BLOG: Fachkräfte Südniedersachsen

#20 In der Theorie ganz einfach

veröffentlicht am 08.04.2022; Autor: Benjamin Schulze

Farbenkasten

Um den Fachkräftemangel zu überwinden, muss das regionale Erwerbspersonenpotenzial ausgeschöpft und erweitert werden. Das klingt zunächst recht einfach. In diesem Beitrag stellen wir vor, welche Handlungsempfehlungen aus der dazugehörigen Theorie abgeleitet werden können. Rasch stellen wir fest, ganz so einfach ist es mit der praktischen Umsetzung allerdings nicht.

In unserem Glossar zum Blog umreißen wir den Begriff „Erwerbspersonenpotenzial“ mit der folgenden Erklärung:
Bezeichnet alle erwerbsfähigen Personen im Alter von 15 bis 65 Jahre, sprich die Summe aus Erwerbstätigen, Arbeitslosen (beide zusammen auch Erwerbspersonen) und geschätzte „Stiller Reserve“ (entmutigte Personen, Personen in kurzfristiger ‚Warteschleife‘ (Aus- oder Weiterbildung, Umschulung), Personen, die vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind oder „Zusatzarbeiter“) und bildet entsprechend eine Obergrenze für das Arbeitsangebot. Kurz gesagt: Zum Erwerbspersonenpotenzial zählen alle Personen, die bei einer günstigen Arbeitsmarktsituation (Vollbeschäftigung) bereit, geeignet und nach den persönlichen Voraussetzungen (Gesundheitszustand, Ausbildung) in der Lage sind, eine entsprechende Beschäftigung auszuüben.

EPP hat Schwächen

Das Erwerbspersonenpotenzial (EPP) umfasst demnach alle Personen, die dem regionalen Arbeitsmarkt im Idealfall zur Verfügung stehen. Aber nicht alle Menschen, die in unserer Region leben, arbeiten auch hier. Das betrifft rund ein Fünftel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Südniedersachsen (52.034 AuspendlerInnen, Stand Juni 2021). Umgekehrt pendeln auch Menschen zum Arbeiten von außerhalb der Region nach Südniedersachsen ein. In absoluten Zahlen sind das aber beinahe 5.000 Menschen weniger, nämlich 47.446 EinpendlerInnen von außerhalb Südniedersachsens. Auf kommunaler Ebene stellt sich der Saldo nochmals deutlich differenzierter dar, auch weil die Menschen innerhalb der Region pendeln. Das Oberzentrum Göttingen verzeichnet beispielweise ein klares Plus, während die ländlicher geprägten Landkreise einen negativen Saldo aufweisen. Besonders hilfreiche Übersichten liefert hierzu der Pendleratlas der Bundesagentur für Arbeit.

Die Theorie ignoriert zudem, wie für idealisierte Theorien nicht unüblich, dass es in der Praxis absolut unmöglich ist, das gesamte Potenzial voll auszuschöpfen. Es gibt keinen Zeitpunkt zu dem sich alle Menschen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren innerhalb einer Region wie der unserigen gleichzeitig in Erwerbstätigkeit befinden. Es werden stets einige Personen auf der Suche nach Orientierung sein, sich eine „Auszeit“ nehmen oder noch nicht den „richtigen“ Arbeitsplatz gefunden haben und wieder andere können sich nicht zum Arbeiten motivieren, absolvieren eine Umschulung oder sind schlichtweg arbeitsunfähig. Die Motive sind vielschichtig und oft auch nicht selbst gewählt. Das wiederum erklärt, warum stets eine sogenannte „Stille Reserve“ existiert. Auch deshalb wird von „Vollbeschäftigung“ bereits ab einer Arbeitslosenquote um die zwei Prozent gesprochen. Es wird davon ausgegangen, dass bei dieser Quote alle arbeitswilligen Erwerbspersonen einen zumutbaren Arbeitsplatz innehaben.

EPP lässt sich nicht koordinieren

Die COVID-19-Pandemie hat die Arbeitsmärkte ordentlich durchgeschüttelt. Vielfach waren Menschen zum Beispiel im HOGA-Sektor (HOtelerie und GAstronomie) gezwungen in andere Berufsfelder zu wechseln, ähnlich verhielt es sich mit KünstlerInnen, Kreativen und Veranstaltungspersonal. Umgekehrt haben sich starke Bedarfe einmal mehr in digitalen und medizinischen Bereichen gezeigt. Die verfügbare Arbeitskraft einer Region lässt sich jedoch nicht zentral koordinieren geschweige denn steuern, in der Form als dass unbesetzte Arbeitsplätze unmittelbar mit Denjenigen ohne Stelle besetzen lassen würden. Der Arbeitsmarkt unterliegt stattdessen den Kräften zwischen Angebot und Nachfrage. Das heißt aber eben auch nicht, dass es keine Unterstützung- oder Anreizmöglichkeiten gibt. Der anhaltende Akademisierungstrend ist so zum Beispiel Ergebnis einer politischen Agenda, die davon ausgeht akademisierte Qualifizierung sei eine bedeutende Standortstärke Deutschlands. Gewiss ist das ein wichtiger Vorteil, doch Monokultur erzeugt langfristig immer sehr anfällige, einseitige Strukturen.

Angesichts der Bedarfe in Bereichen wie Pflege und medizinischer Versorgung reicht allein nominell das Ausschöpfen des Arbeitsmarktpotenzials nicht aus. Unlängst sollte klar geworden sein, ohne auswärtige Arbeitskräfte lassen sich die hiesigen Bedarfe nicht decken. Doch bevor der Fokus zu voreilig auf jene Personen außerhalb der Region gerät, sollte zuvor und vor allem dauerhaft ausreichend Aufwand zur Bindung von aktuellen und künftigen Arbeitskräften in Südniedersachsen betrieben werden. Junge Menschen sollten ebenso wenig abwandern wie jene, die bereits über breites Erfahrungswissen verfügen. Grundsätzlich gilt die Faustregel: Es ist einfacher (und günstiger) jene in der Region zu halten als Auswärtige dauerhaft zu integrieren.

EPP erweitern

Das hiesige Erwerbspersonenpotenzial ist zunächst zu sichern. Das sollte allseits einleuchten, sonst wird das Wenige noch weniger. Darüber hinaus existieren allgemeinhin drei Möglichkeiten um das EPP zu erweitern. Die erste lässt sich technisch bezeichnen als Reproduktion. Jedes weitere Kind in der Region ist eine neue, potenzielle Arbeitskraft. Auch hier kann aktiv Unterstützung seitens ArbeitgeberInnen und Politik geleistet werden, ob durch verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, flexible Arbeitszeitmodelle oder gute und günstige Betreuungsangebote. Die Einflussnahme hierbei erfolgt eher indirekt, direkt und unmittelbar sind die anderen beiden Möglichkeiten: Recruitment und Recovery. Das aktive Anwerben von Fachkräften (meist als Recruitment oder Rekrutieren bezeichnet) ist im internationalen Rahmen meist noch aufwendiger als innerhalb Deutschlands. Dennoch verlangt beides eine aktive Rolle von suchenden ArbeitgeberInnen oder setzt zumindest nicht unerhebliche finanzielle Mittel bzw. eigene organisationale Strukturen, wie z.B. eine Personalabteilung, voraus. In diesem Kontext sind kleinere und mittlere Unternehmen oftmals strukturell bei der Fachkraftsuche gegenüber größeren Betrieben im Hintertreffen. Auf diese Zusammenhänge geht auch unsere Mini-Beitragsserie „Werben um Fachkräfte“ ein.

Die Mini-Beitragsserie Werben um Fachkräfte umfasst bisher vier Beiträge:

Die dritte Möglichkeit zur Erweiterung des EPP besteht im Zurückholen von erwerbsfähigen Menschen (auch Recovery genannt), die in der Region aufgewachsen sind oder hier zeitweise (z.B. für Ausbildung oder Studium) gelebt haben. Solche Bemühungen erfolgen entweder innerhalb von sehr individuellen Einzelfällen oder via öffentlichkeitswirksamer Rückhol-Kampagnen. Letzteres kann nur bedingt für sich alleinstehen und ist deshalb meist eingebettet in größere Regionalmarketings. Aufwand und Nutzen geraten hierbei rasch in ein unwirtschaftliches Missverhältnis, wenn hierfür nicht Alumni-Netzwerke oder ähnliches zweckmäßig eingebunden werden können. Die zentrale Grundvoraussetzung für den Erfolg liegt auf einer emotionalen Ebene. Denn die angesprochenen Personen sollten möglichst viele, positiv geprägte Erinnerungen an ihre Zeit in der Region in sich tragen.

Übergang vom Verkäufer- zum Käufermarkt

Die Theorie zum Erwerbspersonenpotenzial ist recht klar und nachvollziehbar. Doch was so einfach klingt, hat seine Tücken in der praktischen Umsetzung. Viele andere Regionen stehen vor ähnlichen und teilweise den selben Herausforderungen. Vor dem Hintergrund des damit entstandenen Wettbewerbs zwischen den Regionen können sich qualifizierte Arbeitskräfte vielfach die/den ArbeitgeberIn frei aussuchen. Denn mittlerweile ist Arbeitskraft eine Mangelware und deshalb vielfach nachgefragt. In diesem Zusammenhang hat sich der Arbeitsmarkt von einem Verkäufer- zu einem Käufermarkt entwickelt – die Begriffe sind hier zwecks Lesbarkeit in der männlichen Form als Platzhalter gewählt, sollen aber inklusiv für alle Geschlechter gelten. D.h. nicht derjenige, der einen Arbeitsplatz anbietet, diktiert die Bedingungen (hier „Verkäufer“), sondern derjenige, der einen Arbeitsplatz sucht („Käufer“). Der Käufer hat eine so große Auswahl, dass er sich für jenen Verkäufer entscheidet, der das beste Gesamtpaket anbietet. Und dieses Paket setzt sich in der Regel nicht mehr nur aus finanziellen Argumenten zusammen, sondern besteht auch aus vielen „weichen“ Faktoren, die z.B. die Work-Life-Balance betreffen. Hier hat unsere Region bereits viel zu bieten, doch ist dieses nicht nur für Auswärtige aktuell nur begrenzt sichtbar. Die Vorzüge Südniedersachsens müssen sichtbarer werden!

 

Ansprechpartner:

Dr. Benjamin W. Schulze
Bereitsleiter Fachkräfte und Willkommenskultur
T. 0551/270713-43
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